Zeit für ein Echo

Reden schafft Zusammenhalt und Gesundheit. Das Migros-Kulturprozent und die Fachhochschule Nordwestschweiz haben den Wert von Gesprächen mit Resonanz erkannt und verankern die Methode im «Netzwerk Erzählcafé Schweiz».

Susanne erzählt vom Ritual des gemeinsamen Singens an Weihnachten: Einem der seltenen Momente, in denen Eltern, Kinder und Grosseltern zusammensitzen und einfach Familie sind. Manuel erzählt von der verstorbenen Grosstante und seiner Hoffnung, an der Beerdigung nacherzählt zu bekommen, was er zu Lebzeiten versäumt hat in Erfahrung zu bringen: wo die Jahre diese faszinierende Frau überall hingeführt hatten. Hoa erzählt von der Flucht ihres Vaters aus Vietnam, von der sie stets nur tröpfchenweise erfährt, wenn dieser abends mit seinem Freund zusammensitzt.

 

Susanne, Manuel und Hoa sind drei von hundert Fachpersonen aus der sozialen und kirchlichen Arbeit, dem Gesundheits-, Kultur- oder Migrationsbereich, die sich auf Einladung der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) und des Migros-Kulturprozents zum Werkstattgespräch «Das Erzählcafé auf dem Prüfstand» im Hochhaus am Zürcher Limmatplatz eingefunden haben. In kleinen Gruppen wird erprobt, was die Teilnehmenden demnächst an ihrem eigenen Arbeitsort oder in freiwilligem Engagement anbieten möchten: autobiographisches Erzählen im Kreise von interessierten Zuhörerinnen und Zuhörern, die sich möglicherweise (noch) gar nicht kennen.

 

In den Geschichten von Susanne, Manuel und Hoa tritt – angestossen vom Thema «Herkunft» – just jene Erfahrung zum Vorschein, die sie selbst dazu veranlasst, ein solches Erzählcafé gründen zu wollen. Jeder Mensch trägt einen Rucksack voller Gedanken und Erinnerungen mit sich, und allzu oft fehlt im Alltag die Gelegenheit, sie auszupacken. Weihnachten oder Trauerfeiern machen plötzlich bewusst, wie wenig Zeit doch eigentlich bleibt.

 

Nachdenken mit Nachklang

Die zahlreichen Anmeldungen zur Tagung sind für Johanna Kohn, Dozentin an der Hochschule für Soziale Arbeit der FHNW, eine Bestätigung dafür, dass in der Gesellschaft ein grosses Bedürfnis besteht: «Nämlich einfach mal ins Unreine erzählen zu dürfen, was erzählt werden will.» Kohn begleitet seit mehreren Jahren die Entwicklung von Erzählcafés in der Schweiz. Sie hat festgestellt, dass diese Form des Austauschs für viele Menschen bedeutsam ist, weil sie eine Gelegenheit bietet, eine Standortbestimmung im Leben vorzunehmen, ohne diese gleich verwerten zu müssen.

 

So gründeten 2015 die FHNW und das Migros-Kulturprozent das Netzwerk Erzählcafé Schweiz. Es soll eine Übersicht der bestehenden Angebote leisten und diese mit Praxistipps und Fachinputs unterstützen. «Wir möchten die Erzählkultur in der Schweiz und damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken», sagt dazu Ramona Giarraputo, Leiterin der Abteilung Soziales beim Migros-Genossenschafts-Bund. «Zum aktuellen Trend des Sendens und Bewertens setzen wir den Gegentrend des aufmerksamen Zuhörens.»

 

Und tatsächlich: Die Selbsterfahrung im Hochhaus zeigt, wie ungewohnt es eigentlich ist, dass Menschen einfach nur da sind, um zuzuhören. Und später mit einer eigenen Erzählung anzuknüpfen, ausgelöst durch eine Assoziation, ein Stichwort, eine von der Moderatorin eingeworfene Frage. «Wenn ich mich selbst reden höre, denke ich anders nach, und erhalte dazu ein Echo», sagt eine Teilnehmerin. «Das ist sehr wertvoll.»

 

Geteilte Erfahrungen machen reich

Sein Leben nach einem roten Faden zu befragen, urteilsfreie Wertschätzung zu erfahren und Raum für unausgegorene Emotionen zu erhalten – diese Möglichkeit gibt es häufig nur im professionellen Rahmen einer Psychotherapie oder eines Coachings. «Erzählcafés sind ein niederschwelliges Angebot, das nicht nur günstiger ist, sondern auch Identitätsarbeit in einem positiven Sinne ermöglicht: Es setzt nicht bei den Defiziten an», fasst Gastreferent Gert Dressel zusammen. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität in Wien forscht er zu lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen und führt dazu Projekte in der Praxis durch. «Unsere Aufgabe besteht erst einmal darin, einen Raum zu schaffen» – einen Raum, in dem sich innere und äussere Prozesse abspielen können.

 

Organisierte Erzählrunden sind nicht dazu da, individuellen Krisen oder Gefühlen nachzuspüren und sie zu behandeln. Gerade die Präsenz einer Gruppe empfinden viele Teilnehmende aber auf verschiedenen Ebenen als «heilsam»: Die Gespräche durchbrechen die Einsamkeit eines von oberflächlichen Begegnungen und knapper Zeit geprägten Alltags. Im Austausch mit anderen lassen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Umgang mit Erfahrungen finden, was neue Sichtweisen und Handlungshorizonte eröffnet. Und schliesslich erweitert sein Wissen, wer eigene Erlebnisse plötzlich im Kontext von gesellschaftlichen und historischen Entwicklungen erkennt, zu denen sich die einzelnen Berichte verweben lassen.

 

Erzählcafés sind demnach alles andere als formlose Plauderrunden bei Kaffee und Kuchen. Von der Moderation erfordern sie eine sorgfältige Vorbereitung und eine hohe Konzentration bei der Durchführung. Es wollen Bezüge hergestellt und Beiträge zu einem stimmigen Ganzen orchestriert werden. An der Tagung im Hochhaus stehen am Nachmittag denn auch methodische Fragestellungen im Vordergrund: Wie sorge ich dafür, dass jedermann zu Wort kommt, der es möchte? Wie dämme ich Diskussionen darüber ein, wessen Wahrheit die richtige ist? Und wie finde ich ein Thema, das die Leute anspricht?

 

Anknüpfungspunkte schaffen

Umsetzungsideen aus der Praxis gibt es viele: Zum Beispiel die Ausstellung «Verdingkinder reden», die seit 2009 durch die Schweiz tourt und deren Begleitprogramm Erzählcafés mit Betroffenen beinhaltet. Oder das 750-Jahre-Jubiläum der Stadt Winterthur mit dem Anlass «Wir erzählen Erinnerungen». Hier sprachen etwa die erste sowie die aktuelle Gemeindepräsidentin darüber, wie sie sich je zu ihrer Zeit im höchsten Amt der Stadt fühlten und auf welche Erfolge sie besonders stolz sind – immer im Dialog mit den Bewohnerinnen und Bewohnern. Aber auch ganz profane Motive wie «Essen und Trinken» oder «Feste feiern» können Aufhänger für Erzählrunden in Altersheimen, an
Elternabenden oder im Quartiertreffpunkt sein.

 

Eine Teilnehmerin aus Luzern berichtet von generationenübergreifenden Stadtspaziergängen: Eine Schülerin zeigt der Seniorin ihren Lieblingsort, und diese erinnert sich an die Molkerei, von der sie als Kinder jeweils die frische Milch nach Hause gebracht hatte. Multimedial werden die Gespräche dokumentiert, und so bringt jede Altersstufe ihr spezifisches Wissen und Können mit ein – beide lernen hinzu.

 

«Unterschätzen Sie das Interesse der Jugendlichen nicht», pflichtet Jessica Schnelle, Projektleiterin Generationen beim Migros-Kulturprozent, bei. «Erzählcafés haben ein enormes Potential, das gegenseitige Verständnis zu stärken und Vorurteile abzubauen.» Auch Teenager wünschen sich eine Kommunikation jenseits von Whatsapp-Nachrichten und Posts auf Instagram. Studien haben gezeigt, dass ihnen die Zeit mit Freunden und Familie wichtiger ist als die virtuelle Welt.

 

Die Suche nach echtem Kontakt

Einmal mehr zeigt sich also, dass früher nicht alles besser, sondern einfach anders war. «Ich halte es für eine Verklärung der Geschichte, dass die Gemeinschaftlichkeit vor einigen Jahrzehnten stärker gepflegt wurde als heute», sagt Gert Dressel. «Wir projizieren in die Vergangenheit hinein, was wir in der Gegenwart vermissen.» Im boomenden Interesse am Erzählen – neben der mündlichen Form gibt es das autobiographische Schreiben, in der Medien- und Kommunikationsbranche ist «Storytelling» das Wort der Stunde – sieht der Historiker vor allem eine Gegenkultur zur dominanten Welt der Zahlen.

 

In allen Lebensbereichen wird gemessen und evaluiert, bewertet und standardisiert. In Pflegeberufen etwa ist definiert, wieviel Zeit für das Waschen oder die Vergabe von Spritzen aufgewendet werden soll. Schülerinnen und Schüler erstellen Portfolios und schreiben persönliche Aufsätze, doch alles was zurückkommt, ist eine Note zwischen 1 und 6. Man gibt viel von sich preis, und wird doch nicht richtig gesehen: alltägliche Erfahrungen, die frustrierend enden, weil da noch so viel wäre, das schliesslich verborgen bleibt.

 

Erzählcafés sind nicht nur ein räumlich und zeitlich arrangiertes Zusammentreffen von Individuen, die sich in angeleiteter Form über ein bestimmtes Thema unterhalten. Sondern sie sind in erster Linie eine Anregung dazu, den Menschen über das engste Umfeld hinaus mit einer aufmerksamen Haltung zu begegnen.

 

 

 

Publiziert am 9. März 2016 im Online-Magazin von Migros-Kulturprozent (nicht mehr abrufbar)