Sicher keine Schnapsidee

Was brauchen junge Filmschaffende, um in der Branche Fuss zu fassen? Ein Augenschein am Upcoming Lab der Solothurner Filmtage, einer neuen Feedback- und Vernetzungsplattform für den Nachwuchs, unterstützt vom Migros-Kulturprozent.

Der Rakija ist stark, und man schmeckt deutlich die feine Pflaumennote, die in dem Obstbrand steckt. Der Rakija trägt den Geschmack des Dorfes Pranjani im zentralen Hügelland Serbiens, und er trägt den Geschmack des Films, den der Nachwuchsfilmer Nikola Ilić über die Menschen in diesem Dorf drehen will. Der 38-Jährige gräbt zwei kleine Schnapsgläser aus seinem Rucksack und bietet der Produzentin Brigitte Hofer eine Kostprobe an; sie nimmt einen Schluck und verzieht lachend das Gesicht. Wir sind am Upcoming Lab der Solothurner Filmtage: Acht Absolventen von Filmhochschulen erhalten hier die Gelegenheit, ihre Projektideen in Einzelgesprächen mit Expertinnen zu diskutieren.

 

«Der Rakija ist mein Werkzeug, um an die Menschen heranzukommen», erklärt Ilić der Produzentin, der vor zwei Jahren seinen Bachelor an der Hochschule Luzern, Studienrichtung Video abgeschlossen hat. Einmal pro Jahr veranstalten die Einwohner Pranjanis einen Trinkwettkampf, die Rakijada. Bis zu drei Liter des hochprozentigen Schnapses trinken die Männer an diesem Abend. Es ist der Versuch, die Aura des Helden aufrecht zu erhalten, die den im Dorf lebenden Tschetniks als Kämpfer gegen die deutsche Besatzungsmacht einst anhaftete und die sie später, als Söldner im Balkankonflikt, wieder verloren haben. «Du musst aufpassen, dass der Alkohol nicht zu sehr im Vordergrund deiner Geschichte steht», merkt Brigitte Hofer an. «Wie stellst du die Verbindung zur Vergangenheit her?»

 

Es sind solche kritischen Fragen, die sich Ilić von der Teilnahme am neu geschaffenen Gefäss der Solothurner Filmtage erhofft hat. An sechs kleinen Tischen sitzen sich an diesem Nachmittag Berufseinsteiger und Etablierte der Branche gegenüber: Produzentinnen und Prozenten, die im Filmgeschäft die Fäden in der Hand halten und häufig in Jurys, Kritikerrunden und Branchenorganisationen vertreten sind. Im Turnus von je 20 Minuten geht es darum, vielversprechende Stoffe zu diskutieren und herauszufinden, was mitbringen muss, wer im Geschäft bestehen will. «Ich habe noch nie ein Genie getroffen», sagt die Produzentin Elisa Garbar in der Pause. «Aber ich treffe Menschen, die bereit sind, zuzuhören und das mitzunehmen, was sie brauchen.»

 

Klappe, die erste

Die Einstiegshürde für Newcomer besteht darin, am geplanten Filmprojekt beteiligte Personen von der eigenen Idee zu überzeugen. Dem charmanten und gleichzeitig bescheiden wirkenden Ilić scheint es in Solothurn wie in Pranjani zu gelingen, Vertrauen zu schaffen und Nähe herzustellen, ohne die nötige Distanz zu verlieren – auch gegenüber dem eigenen Werk. Denn wer zu sehr an seinen Vorstellungen festhält, dem entgehen womöglich wichtige Aspekte: «Die grosse Qualität eines Filmschaffenden macht es aus, sich begleiten lassen zu können und mit den richtigen Leuten zu umgeben», sagt Garbar. Und genau hier setzt das Upcoming Lab an.

 

Verlässt man den Raum, befindet man sich mitten drin im Gewusel der Solothurner Filmtage: An der Bar des Restaurants Solheure in unmittelbarer Nähe der Spielstätten trifft sich die Schweizer Filmszene. Es ist die informelle Variante dessen, was drinnen im Lab passiert. «Wir wollten eine niederschwellige Vernetzungsplattform kreieren», sagt Direktorin Seraina Rohrer, die an einem der grossen Holztische sitzt. «Angehende Filmschaffende sind an den Schulen sehr gut aufgehoben. Sobald sie diese jedoch verlassen, müssen sie ihre Projekte eigenständig vorantreiben. In dieser Phase bieten wir mit dem Upcoming Lab Unterstützung.» Rund sechzig Absolventen haben sich für dieses erste Zukunftslabor beworben: «Unter ihnen sind sehr begabte Filmemacher, die Lust haben, Geschichten zu erzählen und etwas auszuprobieren», sagt Rohrer. «Sie bringen einen frischen Wind in die Branche, der ihr gut tut».

 

Totale

Genauso wichtig wie Talent und eine einzigartige Handschrift sind auch eine sorgfältige Planung und ein professionelles Dossier. Dinge, die Nikola Ilićs Leidenschaft nicht sind. «Ich muss viel kämpfen, um das tun zu können, was ich wirklich liebe», sagt der Kameramann und Regisseur bei einem hastigen Teller Suppe in der Mittagspause. Seit rund einem Jahr arbeitet er, der in diesem Fall auch als Autor auftritt, am Projekt «Rakijada» – drehen wird er im Mai während zehn Tagen. «Die Freude an der visuellen Kunst geht neben der ganzen Büroarbeit beinahe unter», sagt Ilić.

 

Eine Produktionsfirma hat Nikola Ilić bereits gefunden, jetzt geht es um die Finanzierung. «Rakijada» hat zwei Preise für ein vielversprechendes Drehbuch gewonnen. Ob auch das Bundesamt für Kultur, die Stadt Luzern und weitere Stiftungen einen Beitrag sprechen werden, ist noch offen. Ein 30-minütiger Dokumentarfilm erreicht schnell einmal ein Budget von CHF 100'000.

 

Geht es um Fördergelder, stehen Jungfilmer in Konkurrenz mit den grossen Namen der Branche. Es kann mehrere Monate oder gar Jahre dauern, bis ein Film durchfinanziert ist – wertvolle Zeit, in der es gerade für Berufseinsteiger wichtig wäre, ihr Handwerk zu erproben und Erfahrungen zu sammeln. Nikola Ilić wagt den Spagat: Gemeinsam mit seiner Frau, der Filmemacherin Corina Schwingruber, arbeitet er aktuell an seinem ersten Langfilm, einer Dokumentation der eigenen Familiengeschichte.

Im Mai reist er zum Dreh von «Rakijada» nach Serbien, im Juli will er die Postproduktion bereits abgeschlossen haben. «Du musst haushälterisch mit deiner Energie und Schöpfungskraft umgehen», rät Ivan Madeo beim nächsten Expertengespräch. «Überleg dir gut, was deine Langdoku braucht und wann der richtige Zeitpunkt für ‹Rakijada› gekommen ist.» Im Wettkampf mit der Zeit ist Lässigkeit ein schlechter Ratgeber.

 

Close-Up

Doch die unaufgeregte Herangehensweise ist eine der grossen künstlerischen Fähigkeiten, die in Ilićs Werk sichtbar werden. Nie auf der Suche nach grossen Worten und ergreifenden Szenen, sind seine Filme geprägt von einer gelassenen Atmosphäre der Trostlosigkeit. Subtil schimmert stets ein Sinn für das Tragik-Komische durch, das Ilić selbst in unauffälligen Lebenssituationen entdeckt. «Du hast die Gabe, genau hinzuschauen und das Ironische an einer Situation zu erkennen», sagt Madeo, der Ilićs Arbeit seit längerem verfolgt. «Die Art und Weise, wie du es schaffst, aus einem einfachen Moment eine cineastische Grösse herauszuholen, ist ausgesprochen selten.»

 

Und so spiegelt sich die Fähigkeit, den Dingen ihren Lauf zu lassen ohne dabei das eigentliche Ziel aus den Augen zu verlieren, auch in Ilićs eigenem Lebensweg wieder. In der Skaterszene mit dem Medium Video in Berührung gekommen, bewarb sich der Belgrader für die Filmhochschule in seiner Heimatstadt, wurde jedoch nicht zugelassen. Er arbeitete als Pharmaassistent und Manager für Marketinganalysen – bis seine Kollegen den Typen nicht mehr wiedererkannten, der mit ihnen einst im Bandraum herumsass und schräge Plots für Videoclips entwarf. Er kündigte, heuerte bei einer Buchhandlung an, wo der Lohn zwar schlecht, «aber die Leute und das Gefühl super» waren.

 

Dann lernte er seine Frau kennen, mit der er 2006 in die Schweiz zog. Während sie studierte, arbeitete er als Bühnentechniker am Luzerner Theater, bis 2010 sowohl die Hochschule Luzern als auch die Zürcher Hochschule der Künste grünes Licht gaben. Er entschied sich für Luzern, «weil ich das warme, familiäre Ambiente gern habe.»

 

Abspann

Loslassen macht eine neue Form der Annäherung möglich: «Seitdem ich in der Schweiz bin, habe ich den Drang, mich mit der serbischen Kultur auseinanderzusetzen. Ich kann nichts anfangen mit extremem Patriotismus – aber ich fühle mich hingezogen zu den Menschen auf dem Land. Ich möchte hinter die Vorurteile blicken, die man hier wie dort von ihnen hat.» Dann packt Nikola Ilić seine Schnapsgläschen wieder in den Rucksack und macht sich auf zum nächsten Termin. Wenn es beim Upcoming Lab zwar nicht wie bei der Rakijada darum geht, wer der Stärkste ist, so doch um die Überzeugung, dass sich Ausdauer und Hingabe irgendwann bezahlt machen.

 

 

 

Publiziert im Februar 2016 im Online-Magazin von Migros-Kulturprozent (nicht mehr abrufbar)