Liebe Vera

Ich lese deine Inselpost in der Berner Kulturagenda und spüre dieses Ziehen in der Brust, und gleichzeitig Schmetter­linge im Bauch: Sodade. Im Mai 2020 sah ich dich in einer Corona-Session des Reporter:innen-Forums. Du sagtest, du seist auf der kapverdischen Insel Sal steckengeblieben, als die Welt die Grenzen dicht machte. Und ich dachte: Das gibt es doch nicht. Wäre ich eine Woche früher abgereist, wäre es mir gleich ergangen.

 

Am 23. März 2020 wollte ich nach Dakar fliegen, an eine Hochzeit, und am 10. April weiter auf die Kapverden. Ich wollte zurückkehren zu diesen Menschen, zur Musik und zu den Stränden, in die ich mich verliebt hatte, von dem Moment an, als ich im Win­­ter 2017 zum ersten Mal meinen Fuss auf Boa Vista gesetzt hatte, das Herz noch wund von einer Tren­­­­nung.

 

Ich erinnere mich genau, wie ich nach meiner ersten Nacht am Hafen von Sal Rei die Woh­nung erst gar nicht verlassen mochte – zu lange war ich nicht mehr alleine gereist. Ich stand am Fens­ter und beobachtete die Männer am Quai, wie sie einfach nur dastanden und aufs Meer hinaus­blickten, mi­nu­ten­lang, bevor sie ihr Tagewerk in Angriff nahmen. Als ich schliesslich vor die Tür trat, legte sich eine Ruhe auf mich, wie ich sie seit Lan­gem nicht mehr empfun­den hatte – ein Gefühl von Ver­bun­den­heit mit diesem Ort, den ich noch gar nicht kannte.

 

Am 16. März 2020 beschloss die Schweiz ihren ersten Lockdown, und ich verspürte eine Mischung aus Erleichterung und Trauer. Erleichterung darüber, dass mir eine Entscheidung abgenommen worden war, um die Herz und Verstand gerungen hatten, seit die ersten Gross­veran­staltungen ab­ge­sagt wor­den waren und die WHO die internationale Gesundheitsnotlage ausgerufen hatte. Trauer empfand ich, oder besser gesagt: Es fuchste mich. Noch Anfang März war ich fest ent­schlossen gewesen, ab­zureisen, komme, was da wolle. Ich wollte weg, und ich wollte mei­ne lang­gehegten Schreib­projekte verwirk­lichen.

 

Dass du jetzt da warst, fuchste mich umso mehr. Es fühlte sich an, als ob jemand meinen geheimen Lieblingsplatz für sich beansprucht hätte. Bis in den Sommer hinein verschob ich meine Reise­pläne im Drei­mo­nats­rhythmus. Als der Herbst kam, gab ich auf und buchte Ferien in den Ber­gen. Eine Wo­che später erfuhr ich, dass die Kapverden ihre Grenzen wieder öffneten. Und zwei Wochen später schick­te mir eine Freun­din einen Link: «Bielerin sitzt seit Frühling auf den Kapverden fest.» Ich be­gann, dei­ne Inselpost zu lesen.

 

Ich las von den Essensrationen, die du verteiltest und von der Besorgnis, was das Virus auf dem Archi­­pel würde anzurichten vermögen. Ich las von den Menschen, die du vermisstest, und von den Freundschaften, die du knüpftest. Ich las von den Müll-Sammel-Aktionen am Strand, von den Schild­kröten und vom Surfen. Ich las von deinem Heim­weh, doch las ich stets mit dieser Mischung aus Sehnsucht und Eifersucht. Obwohl ich dankbar war, meine Fa­milie und Freunde in der Nähe zu wis­sen, den Kindern beim Aufwachsen zuzusehen, die Woh­nung ver­­lassen zu dürfen, wann immer ich wollte, finanziell und gesundheitlich versorgt zu sein. Ob­wohl ich wusste, wie prekär die Menschen lebten, auf einer Insel, die das Notwendigste importierte, und seit zehn, zwanzig Jah­ren auf den Touris­mus baute. Ich wusste, dass die Menschen sich oft wegträumten von dort – und doch zurück­wollten, wenn sie konnten.

 

Je länger die Coronakrise andauerte, desto stärker plagten mich die Gewissensbisse. Was durfte ich wollen? Wie stark das Schicksal herausfordern? Ich begann mich zu be­gnügen, und merkte, dass in diesem Begnügen ein besonderer Wert lag. Es lag Ruhe in ihm und Einklang. Einklang mit den ethi­schen Ansprüchen, die ich an mich selbst und die Gesellschaft stellte in Bezug auf das Reisen und einen de­mütigen Umgang mit der Pandemie. Und in der Ruhe be­gann die Ein­sicht zu wachsen: Die Insel, ist sie nicht einfach die Idee von einem Ort, an dem wir uns entfalten, ja neu entdecken kön­nen?

 

Kürzlich bin ich wieder auf deine Briefe gestossen: Krass, du bist immer noch da, dachte ich, und mein zweiter Ge­dan­­ke war sofort: Ob du dich verliebt hast? Ich lese vom Filmemacher Vadu, mit dem du die Kul­turstadt Mindelo erkundest, und denke an meine musikalische Entdeckung auf Boa Vista: «Bida cansada» (bedeutet das «müdes Leben» oder «lebens­mü­de»?) des wun­der­baren Musikers Vadu, der in jungen Jahren in seinem Auto von einer Klippe stürz­te und starb.

 

Und es fällt mir ein Zitat von Henry David Thoreau ein, dem amerikanischen Schrift­steller, der in Zei­ten der Isolation gerade ein Revival erlebt: «Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigent­lichen, wirklich Leben näherzutreten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hatte, damit ich nicht, wenn es zum Sterben ging, einsehen müsste, dass ich nicht gelebt hatte.»

 

Vielleicht sehen wir uns auf der Insel?

 

Liebe Grüsse
Jacqueline

 

Im März 2021